Wenn du deine Gefühle differenzierst, benennst du sie, ohne sie zu bewerten. Das führt zu einem präzisen, nuancierten Blick auf deine Gefühlslage im aktuellen Moment.
Ein Differenzieren bedeutet nichts anderes, als Gefühle voneinander abzugrenzen, sie zu entwirren und genauer zu ergründen. Ich stelle mir das Differenzieren immer wie einen Farbfächer vor: Wenn man ein Dunkelgrün auffächert, kommen viele Grün‑, Blau- und Gelbtöne zum Vorschein. So wie im Farbfächer keine Farben zu einer Mischung kombiniert werden, sondern eigene Farben bleiben, so kannst du auch deine Gefühle zergliedern. Was wie Grün aussieht, ist in Wirklichkeit ein wenig Blau und viel vom Gelb. Und es kann nebeneinander existieren, ohne eine Mischung zu werden.
Mit dem Differenzieren gelingt eine gewisse Distanz, die es auch erlaubt, Dinge so zu sehen, wie sie sind. Und sie als das stehen zu lassen, nicht daran zu rütteln. Du kannst etwas als wunderschön anerkennen, es aber trotzdem loslassen. Du kannst einen Menschen bewundern, dich aber trotzdem entscheiden, ihn nicht mehr zu treffen. Du weißt vielleicht, dass du Schuld hast, dass etwas schief gelaufen ist, machst dich aber deswegen nicht fertig, sondern gelobst im Deal mit dir selbst Besserung.
Dann gelingt etwas Wichtiges: Widersprüche auszuhalten und stehen zu lassen. Zweifel auszuhalten und stehen zu lassen. Nicht alles zu entscheiden, was nicht zu entscheiden ist. Etwas loszulassen, noch bevor man es versteht. Abzuwarten, ohne etwas zu tun.
Gefühle sprachlich differenzieren
Zum Differenzieren der Gefühle hilft es, sprachlich möglichst genau zu sein. Keine Kompromisse! Versuch das Gefühl so genau als möglich zu benennen. Fürs Erste sind dafür auch Fantasiewörter gültig, erst im Gespräch mit anderen wirst du Gefühlsbegriffe synchronisieren müssen. Sätze wie diese können beim Benennen helfen:
Ich spüre … Kummer, Schmerz, …
Ich fühle mich … alleingelassen, abgenabelt, ausgewurzelt, …
Ich habe … Angst, Horror vor, Sehnsucht nach …
Ich bin … traurig, wütend, zornig, sauer, enttäuscht, …
Ich spüre mein Gefühl in Kopf, Hals, Brust, Herz, Bauch, …
Ich fühle mich wie …
Mir geht es so als ob …
Ich spüre sowohl … als auch …
Wer Gefühle genauer benennen kann, kann gleichzeitig besser mit ihnen umgehen. Das Differenzieren deiner eigenen Emotionen und Gefühle hilft dir außerdem nicht nur dabei, mit deinen eigenen Gefühlen besser umzugehen, sondern auch, Gefühle in anderen Menschen besser zu verstehen.1In der Wissenschaft ist dies unter „Emotionsdifferenzierung“ bekannt. ISRAELASHVILI, Jacob/OOSTERWIJK, Suzanne/SAUTER, Disa/FISCHER, Agneta (2019): Knowing me, knowing you: emotion differentiation in oneself is associated with recognition of others’ emotions. Cognition and Emotion, 33:7, 1461–1471. DOI: 10.1080/02699931.2019.1577221
Versuche dich im Differenzieren deiner eigenen Gefühle zu üben und halte dich dabei gern an folgende Schritte:
- Gib dem Gefühl Raum.
- Dass du das Gefühl genau benennen kannst, ist wichtiger als dass du es los wirst.
- Wenn du das Gefühl benennen kannst, kannst du es durchleben, ohne es zu bewerten.
- Schließe die Beobachtung ab, schließe den „Raum“ und kümmere dich um etwas anderes. (D.h. gib dem Gefühl zwar Raum, aber in Intensität und Zeit begrenzt. Die Kontrolle darüber hast du selbst.)
Hast du’s gewusst?
Alexityhmie oder „Gefühlsblindheit“ betrifft – zumindest in Teilen – etwa 10 % aller Deutschen. (quarks.de)
Hast du ein ungewöhnliches Lieblingsgefühl? Berichte gerne davon als Kommentar.
Literatur
- 1In der Wissenschaft ist dies unter „Emotionsdifferenzierung“ bekannt. ISRAELASHVILI, Jacob/OOSTERWIJK, Suzanne/SAUTER, Disa/FISCHER, Agneta (2019): Knowing me, knowing you: emotion differentiation in oneself is associated with recognition of others’ emotions. Cognition and Emotion, 33:7, 1461–1471. DOI: 10.1080/02699931.2019.1577221
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